Über die Liebe, das Leben, die Menschen und deren Eigenheiten (Ausschnitt aus einem Romanfragment)
por Max Herrmann @xam_art
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Es ist ein bemerkenswertes Phänomen, dass Menschen oft in Momenten der Verzweiflung oder Einsamkeit Geschichten aus ihrer Vergangenheit neue Bedeutsamkeit beimessen, obgleich sie in anderen Momenten gar nicht an sie denken mögen und würde man sie, in einem Moment, in der ihr Blick auf die Dinge vor ihnen gerichtet ist, nach diesen Geschichten fragen, wären sie wahrscheinlich dazu bereit diesen Geschichten gänzlich ihre Wirkung auf sie abzusprechen. Ob etwa den Momenten der Verzweiflung, Einsamkeit oder Abgeklärtheit Klarheit zuzusprechen ist und den Momenten des Fokus auf unmittelbar Gegenwärtiges Verklärung oder ob das Gegenteil der Fall ist, ist nicht so einfach und auch nicht verallgemeinerbar zu entscheiden. Vielmehr lässt sich jedes Mal von Neuem etwas Anderes aus dem Verhalten schließen, das auf die Konfrontation mit Erinnerungen, Erlebnissen und Geschichten aus der Vergangenheit, folgt, denn selbst die Geschichte eines einzelnen Lebens wird stets umgeschrieben, neu belegt, neu bewertet. So werden Ideen, die fix verankert scheinen plötzlich fluid, die Grundfesten deiner Überzeugungen lösen sich auf oder verformen sich zumindest derart, dass sie kaum zu erkennen sind oder es ergibt sich einfach ein neuer Kontext, der die Bedeutung deiner Überzeugung verschiebt. Trotzdem glauben die Menschen oft Muster erkennen zu können; wenn nicht Stränge einer inneren Handlung ihres eigenen Lebens, so doch Muster, die Beziehungen zwischen Dingen oder Beziehungen zwischen Dingen und Handlungen erklären. Hauptsächlich aber geht es den Menschen um die Verhaltensmuster der Handelnden, die sich alternierend wiederholen und Auskunft über die Motive der Handelnden selbst geben sollen. So war auch Linus auf der Suche nach Mustern, die seine Erfolglosigkeit in der Partnersuche und seine Einsamkeit in einen allgemeinen Zusammenhang stellten, um einerseits Lösungen zu finden, die Verbesserung versprechen würden und andererseits um sein Problem auf eine allgemeinere Ebene zu heben, damit nicht mehr er allein die ganze Last der Verantwortung tragen musste. Linus erinnerte sich nun, da ihm seine Einsamkeit gerade besonders gewahr wurde, an das Symposium des Eros von Platon, das er in seiner Schulzeit kennengelernt hatte. Unwillkürlich fiel ihm dabei die Erzählung des Aristophanes ein, der den Ursprung des Begehrens auf die Spaltung der Kugelmenschen zurückführte - auch Linus schwebte nun ein Gedanke vor, der Ähnlichkeiten mit jenem des Aristophanes aufwies, wenn es auch nur geringfügige Ähnlichkeiten sein mochten. Linus stellte sich ungefähr Folgendes vor: Es gab zerrissene Menschen und es gab selbstbewusste Menschen. Die zerrissenen Menschen waren innerlich gespalten und neigten stets zur Extreme. Sie waren entweder bereit alles herzugeben oder alles zu nehmen, sie kannten kein Maß und keinen anderen Weg des Ausgleichs, als zwischen einem Extrem und einem anderen hin- und her zu schwanken. Sie suchten nach einer Einheit, doch konnten sie nicht erreichen, da sie innerlich gespalten waren durch Liebe und Hass. Entweder sie hassten sich selbst und liebten die anderen übermäßig, da sie sie verklärten, weil sie sich ihnen aus Selbsthass unterlegen fühlten oder sie hassten die anderen, da sie sich selbst verklärten, weil sie sich, aus übermäßiger Liebe zu sich selbst, überlegen fühlten. In diesen beiden Zuständen waren sie anderen gefährlich, da sie auf der Suche nach Liebe, Einheit und Ganzheit zwar imstande waren andere selbstbewusste Menschen zu zerrissenen Menschen zu machen, niemals aber selbst zu selbstbewussten Menschen zu werden. Die selbstbewussten Menschen hingegen waren sich ihrer selbst in einer Weise bewusst, die auch ohne Extreme auskam. Sie waren nämlich selbst Einheit, ihre Liebe war nicht ungeteilt, denn wenn sie liebten, liebten sie sowohl sich selbst wie den geliebten Menschen, sie waren bereit einen Teil zu geben und zugleich bereit einen Teil zu empfangen. Sie strebten weder an nichts zu haben noch strebten sie an alles an sich zu reißen. Auch wenn sie hassten, waren sie eine Einheit: Sie hassten sowohl den gehassten Menschen, als auch den Teil ihrer selbst, der hasste, denn der Zustand des Hasses widersprach ihrem Wesen. Linus' Vorstellung hatte mit Aristophanes' Erzählung der Kugelmenschen das Element der Spaltung und der Einheit gemein, doch kam Linus zu einem anderen Schluss als der Dichter. Linus schloss, dass es für die zerrissenen Menschen keine Möglichkeit gab mit einem Partner glücklich zu werden, außer wenn sie selbst die Erkenntnis erlangten, dass sie Zerrissene waren und einen Weg fanden, wie sie durch Erfahrung, gelungenen und misslungenen Versuchen lernten aus ihren Fehler zu lernen und so schließlich ihr Selbstbewusstsein erlangten. Die einen mussten den Gedanken aufgeben unvollständig zu sein, die anderen den unfehlbar zu sein.
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